Der ferne Gott – Ideen auf Distanz? Die siebte Aporie im Kontext (Plat. Parm. 133b4-135b4)
Im Eingang des Platonischen Parmenides berichtet Kephalos von einem Gespräch, das der Parmenides, Zenon, der junge Sokrates und ein junger Mann namens Aristoteles vor langer Zeit miteinander in Athen geführt hätten. In dessen Verlauf entspinnt sich ein Dialog des Parmenides mit Sokrates über die Ideen. Parmenides formuliert dabei sieben als Aporien formulierte Kritikpunkte gegen die These von der absoluten Existenz der Ideen, wie Sokrates sie hier vertritt. Im Fokus dieses Beitrages soll die siebte Aporie des Parmenides stehen, die eng mit der sechsten resp. deren Einleitung verbunden ist: Dort formulierte Parmenides das, wie er sagt, größte Problem: Die Erkennbarkeit der Ideen (Parm. 133b3ff.). Die Widerlegung dieses Kritikpunktes könne nur von einem erfahrenen und fähigen Mann nachvollzogen werden. In der siebten Aporia nun fokussiert Parmenides (erneut) die separate Existenz der Ideen und deren Nicht-Erkennbarkeit. Daraus leitet er die Unerkennbarkeit des Schönen und des Guten und all dessen ab, was wir für Ideen halten. Wenn Wissen als Gattung (γένος) existiert, muss dieses genauer als das unsere sein, ebenso sei es mit Schönheit etc. Allein Gott sei Wissen an sich resp. das genaueste Wissen zuschreiben (134c10f.). Allerdings könne Gott, im Besitz des Wissens an sich, unsere Realität nicht erkennen. Sie hätten bereits darin übereingestimmt, dass Ideen keine Wirkung auf unsere Realität hätten und umgekehrt. Er zieht den Schluss, dass also der Gott, im Besitz der umfassendsten Herrschaft und des genauesten Wissens, niemals Macht über uns habe und etwas von dem bei uns erkenne und umgekehrt wir nicht über jene Macht hätten noch etwas vom Göttlichen mit unserem Wissen erkennen könnten (134d9-e6). Somit konstatiert er die absolute Trennung, Bezugslosigkeit und Ferne zwischen den Ideen resp. Gott und der Menschenwelt. Am Endes spricht Sokrates von einem θαυμαστὸς λόγος, wenn man dem Gott Wissen abspräche (134e7f.).
Im Vortrag sollen folgenden drei Themen akzentuiert werden:
1) Der ferne Gott
In der letzten Aporie bringt Parmenides unvermittelt ‚Gott’ ins Spiel, dem die vollständigste Form von Wissen und Macht bescheinigt wird. Aus dem unmittelbaren Kontext wird deutlich, dass hier erstmals im Dialog der göttliche (zwischen Gott, Göttlichem und Göttern sowie Singular und Plural changierende) Charakter der Ideen greifbar wird (Ferrari 2004, 224). Dieser Gott wird gleichsam als Personifikation einer der separat existierenden Ideen verstanden, die keine Wirkung auf uns und die Realität bei uns, den Menschen, hat – und umgekehrt. Das Hauptproblem ist hier die auf der separaten Existenz der Ideen (und des Gottes) basierende Distanz zwischen der göttlichen Ideenwelt und der Menschwelt. Mehrfach zuvor war ihr ontologischer Status als absolut von der sinnlichen Welt bezeichnet worden (χωρίς etc., Ferrari 2004, 206 A. 34). Die Ideen und somit auch der Gott existieren, so schlussfolgert Parmenides, absolut und getrennt voneinander (vgl. Peterson 1981). Damit hätten aber die Ideen ihre Relevanz für uns verloren. Die absurde (epistemologische) Konsequenz des separaten (ontologischen) Status der von Sokrates ins Feld geführten Ideen wird besonders greifbar in der Figur des – in der Literatur kaum beachteten (aber: Eggers Lan 1986/87) – unvermittelt genannten Gottes (resp. des Göttlichen / der Götter). Daher soll überprüft werden, inwiefern wir hier von einer impliziten Theologie im Kontext der Ideenlehre sprechen dürfen und inwiefern diese im aktuellen aporetischen Kontext (noch?) nicht akzentuiert wird. Es wird zu fragen sein, ob der hier eingeführte Gott epistemologisch wie ontologisch nicht nur als exemplarische, sondern als hierarchisch höherstehende Idee zu verstehen ist (vgl. Superlativ: ἀκριβεστάτην, 134c11). Es wird kritisch zu diskutieren sein, ob die Einbettung in eine paradoxe Aporie grundsätzlich die Höherstellung des Gottes innerhalb der Ideenwelt in Frage stellt oder nicht (vgl. Wyller 1960/2007, 75).
2) Der Zweifler und die Distanz
Im unmittelbaren Kontext der siebten und letzten Aporie wird durch Parmenides die anonyme Figur eines fictus interlocutor ins Spiel gebracht: Es ist der von Natur aus geeignete und erfahrene Zweifler, der die (aufwendige) Widerlegung seines Zweifels an dieser Ideenlehre mitvollziehen könnte. Er wird kurz davor (133b4-c2) und wenig später (135a7-b2) erneut (Ferrari 2004, 222f.; 232) genannt. Der Passus dieser Aporie erhält somit nicht nur durch ihre Schlussposition, sondern auch durch diese Rahmung eine besondere Stellung. Damit verweist m.E. der Autor Platon auf die besondere Absurdität dieser Aporie, die aber grundsätzlich auflösbar wäre. Der Zweifler fungiert überdies als Identifikationsfigur für Kritiker an der Ideenlehre. Zum einen ist damit auf entsprechende (innerakademische) Kritiker außerhalb des hier vorhandenen Personentableaus verwiesen, weshalb theologische Konzeptionen innerhalb der Alten Akademie, z.B. die Ideenlehre des Eudoxos (vgl. Cornford 1936, 86f.) und Ideenlehre sowie Gottesbild des Aristoteles (Allen 1983, 173-176; Migliori 1990, 154) berücksichtigt werden müssen (Brisson 1994, 30f.; 42; Graeser 2003, 5; 25-31). Zum anderen wird rhetorisch-spielerisch ein neues Gesprächsniveau in Aussicht gestellt, auf dem die bislang kritisierte Ideenlehre besser definiert werden kann (vgl. Reale 22000, 303f.). Mit Platons literarischen Kunstgriff des Zweiflers und seiner – aufwendigen, gleichwohl möglichen – Belehrung zeichnet sich m.E. eine Distanzierung vom bisherigen aporetischen Gespräch über die Ideen ab, die auch in Sokrates’ ironischer Anmerkung (θαυμαστὸς λόγος, vgl. McPherran 1999) zum Ausdruck kommt.
3) Literarische Strategien der Distanzierung
Auch im komplexen narrativen Rahmen des gesamten Parmenides-Gesprächs finden sich Distanzmarker: Kephalos erzählt, wie er durch die Vermittlung von Glaukon und Adeimantos in Athen von Antiphon ein Gespräch erfahren habe, das dieser wiederum in seiner Jugend von Pythodoros gehört habe, in dessen Haus seinerzeit das Gespräch zwischen dem alten Parmenides, Zenon, dem jungen Sokrates sowie dem jungen Aristoteles stattgefunden habe. Die historische Distanz zwischen der aktuellen Erzählsituation und der des damaligen Gesprächs über die Ideen ist also beträchtlich. Dazu kommt, dass sämtliche Berichterstatter (v.a. Antiphon und Pythodoros) keinesfalls philosophisch ausgewiesen, also philosophische Laien sind. Überdies ist das methodische Unvermögen des jungen Sokrates im Eingang des Dialogs so auffällig, dass seine dialektischen Schwächen als distanzschaffende Signale zum Nach- und Mitdenken für die Rezipienten verstanden werden dürfen.
Relevant ist auch das räumliche und festive Setting des (berichteten) Gesprächs mit Parmenides und Zenon, das im Haus des Pythodoros im Kerameikos, vor den Toren Athens, stattfindet. Die beiden Eleaten sind anlässlich des Panathenäenfestes zu Ehren der Stadtgöttin Athena nach Athen gekommen waren, welches das Zusammentreffen mit Sokrates erst motiviert. Das genannte Gespräch erweist sich als philosophische Parallelhandlung zum religiösen Panathenäenfest. Da die Panathenäenprozession traditionell vom Kerameikos hinauf auf die Akropolis verlief und eben vom Kerameikos in die entgegengesetzte Richtung die Strasse zum Gelände des Heros Akademos hinausführte, wird deutlich, dass der Raum des Gespräches, das Haus im Kerameikos, an einer Schnittstelle zwischen Religion und (Platonischer) Philosophie platziert ist. Räumlich (der Kerameikos liegt vor der Stadt) wie thematisch distanzieren sich die Philosophen freilich vom Spektakel der Polisreligion und führen ein philosophisches Gespräch, das gleichwohl theologische Implikationen hat. Parallelen mit dem personalen, festiven wie räumlichen Setting aus Platons Politeia sind evident. Mit Blick auf die siebte Aporie des Parmenides, die religiösen Kult wie theologische Spekulation überflüssig machen würde, sollen daher die genannten narrativen, personalen und räumlichen Distanzmarker in die Interpretation einbezogen werden.
The Distant God – Ideas at a Distance? The Seventh Aporia in Context (Plat. Parm. 133b4-135b4)
At the beginning of Plato’s Parmenides, Kephalos recalls a conversation that Parmenides, Zenon, the young Socrates and a young man named Aristotle had had a long time ago in Athens. There progresses a dialogue between Parmenides and Socrates about ideas. Parmenides formulates seven points of criticism (Aporiai) against the thesis of the absolute existence of the ideas, as Socrates represents it here. The focus of this contribution is to be the seventh aporia of Parmenides, which is closely connected with the sixth respectively its introduction: there Parmenides expressed, as he says, the biggest problem: the recognizability of the ideas (Parm. 133b3ff.). The refutation of this crucial point would only be possible by an experienced and capable man. In the seventh Aporia, Parmenides (again) focuses on the separate existence of ideas and their unrecognizability. From this he derives the unrecognizability of the beautiful and the good and all that we consider ideas. If knowledge exists as a genre (γένος), it must be more precise than ours, just as it must be with beauty etc. Only God is to attribute knowledge itself or the most exact knowledge (134c10f.). However, God, in possession of knowledge per se, could not recognize our reality. They had already agreed that ideas had no effect on our reality and vice versa. He draws the conclusion that God, having the most comprehensive supremacy and the most exact knowledge, never has power over us and recognizes anything of that with us and vice versa we do not have power over that nor can we recognize anything of the divine with our knowledge (134d9-e6). Thus he states the absolute separation, lack of reference and distance between the ideas resp. God and the human world. In the end Socrates calls it a θαυμαστὸς λόγος if one denies the God knowledge (134e7f.).
The following three topics are to be emphasized in this paper:
1) The Distant God
In the last aporia, Parmenides suddenly brings ‘God’ into play, to whom the most complete form of knowledge and power is attested. From the immediate context it becomes clear that here for the first time in dialogue the divine (between God, divine and gods as well as singular and plural changing) character of the ideas becomes seizable (Ferrari 2004, 224). This God is understood, as it were, as the personification of one of the separately existing ideas, which has no effect on us and the reality with us, the humans – and vice versa. The main problem here is the distance based on the separate existence of ideas (and God) between the divine world of ideas and the human world. Several times before their ontological status had been described as absolute from the sensual world (χωρίς etc., Ferrari 2004, 206 A. 34). Parmenides concludes that the ideas and thus also the God exist absolutely and separately from each other (cf. Peterson 1981). With that, however, the ideas would have lost their relevance for us. The absurd (epistemological) consequence of the separate (ontological) status of the ideas brought into the field by Socrates becomes particularly evident in the figure of the God (or of the divine / the gods) suddenly named – scarcely noticed in literature (but: Eggers Lan 1986/87). Therefore it will be examined to what extent we may speak here of an implicit theology in the context of the doctrine of ideas and to what extent it is not (yet?) accentuated in the current aporetic context. It will have to be asked whether the God introduced here epistemologically and ontologically is to be understood not only as an exemplary idea, but also as a hierarchically higher idea (cf. Superlative: ἀκριβεστάτην, 134c11). It will have to be critically discussed whether the embedding in a paradoxical aporia fundamentally questions the higher position of God within the world of ideas or not (cf. Wyller 1960/2007, 75).
2) The Sceptic and the Distance
In the immediate context of the seventh and final aporia, Parmenides brings into play the anonymous figure of a fictus interlocutor: it is the by nature suitable and experienced skeptic who could help to (elaborately) refute his doubt about this doctrine of ideas. He is mentioned again shortly before (133b4-c2) and a little later (135a7-b2) (Ferrari 2004, 222f.; 232). The passage of this aporia thus gets a special position not only by its final position, but also by this framing. With this, in my opinion, the author Plato refers to the particular absurdity of this aporia, which, however, would be dissolvable in general. Moreover, the skeptic functions as a figure of identification for critics of the doctrine of ideas. On the one hand this refers to relevant (inner-academic) critics besides the tableau of persons available here, which is why theological conceptions within the Old Academy, e.g. the doctrine of ideas of Eudoxus (cf. Cornford 1936, 86f.) and the doctrine of ideas as well as the conception of God of Aristotle (Allen 1983, 173-176; Migliori 1990, 154) must be considered (Brisson 1994, 30f.; 42; Graeser 2003, 5; 25-31). On the other hand, in a rhetorical and playful way, a new level of conversation is proposed at which the theory of ideas criticized so far can be better defined (cf. Reale 22000, 303f.). With Plato’s literary device of the skeptic and his – elaborate, nevertheless possible – instruction, a distance from the previous aporetic discussion about the ideas becomes emerging, which is also expressed in Socrates’ ironic remark (θαυμαστὸς λόγος, cf. McPherran 1999).
3) Literary Strategies of Distance
Distance markers can also be found in the complex narrative framework of the entire Parmenides conversation: Kephalos recounts how, through the help of Glaukon and Adeimantos in Athens, he learned of Antiphon about a conversation that in his youth Antiphon in turn had heard from Pythodoros, in whose house the conversation between the old Parmenides, Zeno, the young Socrates and the young Aristotle had taken place. The historical distance between the present narrative situation and that of the discussion of ideas at the time is therefore considerable. In addition, all the reporters (above all Antiphon and Pythodoros) are by no means philosophically proven, i.e. they are philosophical amateurs. Moreover, the methodological inability of the young Socrates at the beginning of the dialogue is so conspicuous that his dialectical weaknesses may be understood as distance-creating signals for the recipients to reflect and think along.
Also relevant is the spatial and festive setting of the (reported) conversation with Parmenides and Zenon, which takes place in the house of Pythodoros in Kerameikos, just outside Athens. The two Eleates came to Athens on the occasion of the Panathenian Festival, celebrated in honour of the city goddess Athena, which is what motivates their encounter with Socrates. The aforementioned conversation proves to be a philosophical parallel action to the religious Panathene festival. Since the Panathenic procession traditionally ran from Kerameikos up to the Acropolis and led just from Kerameikos in the opposite direction out the street to the area of Heros Akademos, it becomes clear that the very place of the conversation, the house in Kerameikos, is placed at an interface between religion and (Platonic) philosophy. Spatially (the Kerameikos lies in front-of-city) and thematically, of course, the philosophers distance themselves from the spectacle of polis religion and conduct a philosophical conversation that nevertheless has theological implications. Parallels with the personal, festive and spatial setting of Plato’s Politeia are evident. With regard to the seventh aporia of the Parmenides, which would make religious cult and theological speculation superfluous, the above-mentioned narrative, personal and spatial distance markers should therefore be included in the interpretation.